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Bürgerkrieg im Jemen: KINDERARBEIT UND MISSBRAUCH steigt

21. März 2023
Thema:Kinderrechte
Von:HAITHAM ALQAOUD
Angesichts der Tatsache, dass Tausende von jemenitischen Kindern am Arbeitsplatz sexuell missbraucht und schwer verletzt werden, drängen Aktivist:innen auf wirksame Überwachungsmechanismen.

Der 15-jährige Omar* erinnert sich noch gut daran, wie er als Obdachloser in den Straßen von Hodeida, der wichtigsten jemenitischen Hafenstadt am Roten Meer, auf der Suche nach jemandem war, der ihn aufnehmen würde.

Nachdem er zwei Wochen lang allein auf den Straßen der Hauptstadt Sana'a gelebt hatte, war Omar ein leichtes Ziel für einen Arbeitgeber in Hodeida, der auf der Suche nach schutzbedürftigen Kindern war, die durch den langjährigen Krieg im Land von ihren Eltern getrennt wurden.

Omar wurde gezwungen, sich mit dem Arbeitgeber und seinen Freunden zu treffen, die ihn regelmäßig sexuell missbrauchten.

„Sie haben mir gesagt, dass sie mich töten, wenn ich nicht zustimme, mich mit ihnen zu treffen und versuche zu fliehen oder es jemandem zu erzählen“, erzählt Omar gegenüber FairPlanet. „[Er] schlug mich einmal, als ich mich weigerte, mit ihm und seinen Freunden Sex zu haben.“

Omar wurde von seinem Arbeitgeber täglich auf den Markt mitgenommen, um ihm beim Verkauf von Qat zu helfen, einer im Jemen beliebten, leicht narkotisierenden Pflanze. Sein Arbeitgeber saß dabei immer neben ihm und verhandelte direkt mit den Kunden. Auf diese Weise wurde Omar daran gehindert, sich frei zu bewegen oder mit jemandem zu sprechen.

Zwei Jahre sind vergangen, seit Omar mit Hilfe eines örtlichen Polizisten aus Hodeida zurück nach Sana'a geflohen ist. Der Beamte hatte seine Eltern ausfindig gemacht und Omar mehr als einen Monat später wieder mit seiner Mutter und seinem Vater zusammengebracht.

Doch bis heute kann Omar den Schrecken der Gefangenschaft und der ständigen Misshandlung durch drei Personen, darunter sein Arbeitgeber, nicht überwinden. „Die Vorfälle haben mich schwer traumatisiert“, sagt er. „Es gibt keine Hilfszentren für Kinder wie mich.“

Leider ist Omars Geschichte kein Einzelfall.

Der anhaltende Krieg im Jemen hat zu einer Zunahme verschiedener Formen von Gewalt gegen Kinder geführt, darunter Ausbeutung, körperliche Misshandlung, Kinderarbeit, Zwangsrekrutierung, häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt und Kinderheirat.

UNICEF verzeichnete zwischen 2019 und 2020 mehr als 8.526 Verstöße gegen Kinder, darunter die Verweigerung des Zugangs zu humanitärer Hilfe, die Tötung und Verstümmelung von Kindern und die Rekrutierung von Kindern in dem Konflikt. Mehr als 3.500 dieser Kinder hatten mehr als eine Form der Verletzung erlitten.

Neben dem sexuellen Missbrauch durch räuberische Arbeitgeber sind Kinder, die in ländlichen Gebieten Jemens leben, auch durch Zwangsarbeit in der Landwirtschaft gefährdet.

Kinderarbeit in der Landwirtschaft gilt als gefährlich, da die Kinder Pestiziden, schweren landwirtschaftlichen Maschinen und körperlicher Belastung ausgesetzt sind. Viele von ihnen werden zum Anbau von Qat gezwungen.

Daten aus einer Vorkriegserhebung über Kinderarbeit im Jemen, die von der Zentralen Statistikorganisation des Landes, der Internationalen Arbeitsorganisation und UNICEF zusammengestellt wurden, zeigen, dass 1,6 Millionen oder 21 Prozent der Kinder zwischen 5 und 17 Jahren im Jemen beschäftigt sind.

Eine vom jemenitischen Zentralamt für Statistik durchgeführte Erhebung ergab, dass 50,7 Prozent der Kinderarbeiter gefährliche Arbeiten verrichten und dass die überwältigende Mehrheit (95,6 Prozent) in gefährlichen Berufen arbeitet. Ferner wurde festgestellt, dass die Mehrheit der Kinder (57,4 %) in der Landwirtschaft beschäftigt ist.

WIE VIELE FÄLLE WERDEN NICHT GEMELDET?

Omar, der zu seinen Eltern nach Sana'a zurückgekehrt konnte, sagte, er habe den Job in Hodeida ursprünglich auf Empfehlung eines Freundes angenommen, der am selben Arbeitsplatz beschäftigt war, und erzählte, dass er zunächst mit dem Angebot einer guten Bezahlung und einer besseren Zukunft gelockt wurde.

„Ich bereue es sehr, dass ich mich nicht mit meinem Vater über diesen Job beratschlagen konnte. Ich hielt ihn für eine große Chance, die Arbeit schien mir besser, als Autos zu waschen, ohne etwas dafür zu bekommen“, erzählt Omar.

Omar ist eines von Tausenden von Kindern im Jemen, die nach Angaben von Kinderschutzexperten am Arbeitsplatz sexuell missbraucht werden. Und da viele Familien im Jemen diese Vorfälle nicht melden, aus Angst, dass sie Schande über die Familie bringen könnten, dürften die tatsächlichen Zahlen höher sein als die derzeit verfügbaren.

„Aufgrund des Konflikts sind viele Kinder nicht in der Lage, die Verstöße, denen sie ausgesetzt sind, zu melden, da die schlechte wirtschaftliche Lage sie zwingt, zu schweigen und weiter zu arbeiten“, erklärt Mona Alban, Leiterin der Abteilung zur Kontrolle von Kinderarbeit im jemenitischen Ministerium für Soziales und Arbeit, gegenüber FairPlanet.

„Wenn der Konflikt im Jemen weiter anhält, können wir davon ausgehen, dass immer mehr Kinder am Arbeitsplatz missbraucht werden“, fügt sie hinzu.

GEFÄHRLICHE ARBEITEN 

Im Jemen ist es nicht ungewöhnlich, dass Jungen als Automechaniker, Metzger, Qat-Verkäufer oder in Metallwerkstätten arbeiten, wo sie von gefährlichen Geräten umgeben sind - Arbeiten, für die ihre heranwachsenden Körper eigentlich nicht geeignet sind.

Kinder sind daher anfälliger für arbeitsbedingte Verletzungen und Krankheiten als Erwachsene, die dieselbe Art von Arbeit verrichten.

Außerdem befindet sich das Gehirn von Kindern noch in der Entwicklung, was es ihnen erschwert, die mit der Arbeit, die sie verrichten müssen, verbundenen Risiken richtig einzuschätzen und zu bewältigen. Infolgedessen ist ein erheblicher Teil der Kinder, die Kinderarbeit verrichten, von den Gefahren am Arbeitsplatz betroffen.

Im Jahr 2013 gab das jemenitische Ministerium für Soziales und Arbeit eine Richtlinie heraus, die eine Liste von 38 gefährlichen Tätigkeiten enthielt, die Kinder nicht ausüben dürfen, darunter Arbeiten im Bergbau, Elektroarbeiten, chemische Produktion, mechanische Arbeiten und das Versprühen von Pestiziden. Dennoch werden Kinder in dem Land weiterhin zu solchen Arbeiten benutzt.

Und obwohl Jemen das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation von 1999 über die schlimmsten Formen der Kinderarbeit unterzeichnet hat, war das Land das letzte, das das Ziel des Übereinkommens, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit zu beseitigen, umsetzte - was schließlich 2016 geschah.

KINDER, DIE NICHT ZUR SCHULE GEHEN, SIND BESONDERS GEFÄHRDET

Mansour* ist ein 16-jähriger Junge aus der Region Ibb. Er erzählte FairPlanet, dass er gerne seine Ausbildung abschließen und sein Ziel, Neurologe zu werden, verwirklichen würde. Bevor er bei der Arbeit verletzt wurde, ging Mansour zur Schule, traf sich regelmäßig mit seinen Freunden und lernte gerne.

Doch im Februar 2019 verletzte sich Mansour bei der Arbeit in einer Schmiede an der Wirbelsäule und kann seitdem nicht mehr gehen. Er war auch nicht in der Lage, in die Schule zurückzukehren oder ansonsten „ein normales Leben zu führen“.

„Ich kann den Moment nicht vergessen, als meine Wirbelsäule verletzt wurde“, berichtet er. „Ich arbeitete ganz normal, und plötzlich fiel der Tank auf dem Dach des zweiten Stocks herunter und traf mich am Rücken, wobei vor allem mein Rückenmark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ich verbrachte drei Monate im Krankenhaus und konnte nicht mehr stehen“, und fügt hinzu:

„Vor vier Jahren dann verstarb mein Vater. Er war sehr hilfsbereit und hat sich um mich gekümmert. Aber jetzt unterstützt mich meine Mutter, wo immer ich hingehe.“

Auch Omar aus Sana'a war es wegen der wirtschaftlichen Lage seiner Familie nicht möglich, die Schule zu besuchen. Sein Vater riet ihm, zu arbeiten und Geld zu verdienen, anstatt zur Schule zu gehen, um die Familie zu unterstützen.

Mit 15 Jahren hat Omar bereits als Tankwart, Autowäscher und Qat-Verkäufer gearbeitet.

„Kinder, die nicht zur Schule gehen, sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, ausgebeutet zu werden. Sie werden gezwungen, sich [im Jemen als Kindersoldaten] den Kämpfen anzuschließen, Kinderarbeit zu verrichten und früh zu heiraten“, erklärt Sara Beysolow Nyanti, UNICEF-Vertreterin im Jemen.

Nach Angaben von UNICEF hat der Krieg im Jemen mehr als 2 Millionen Kinder aus der Schule verdrängt und gefährdet damit ihre Zukunft. Weitere 3,7 Millionen Kinder laufen Gefahr, den Unterricht zu verpassen, weil die Gehälter der Lehrer ständig einbehalten werden.

Zwei Drittel der jemenitischen Lehrerschaft - mehr als 170.000 Lehrer - haben seit sieben Jahren kein regelmäßiges Gehalt mehr erhalten.

WER IST DAFÜR VERANTWORTLICH?

Der jemenitische Bürgerkrieg, der am 26. März 2015 begann und zur größten humanitären Krise der Welt geführt hat, geht gerade in sein achtes Jahr.

Der Krieg hat die Infrastruktur des Landes zerstört und lebenswichtige Industriezweige ins Visier genommen, wodurch Unternehmen geschädigt wurden, Tausende von Arbeitsplätzen verloren gingen und sich Millionen von Familien in einem ständigen Überlebenskampf wiederfinden.

Da die Kinder im Jemen keinen Zugang zu Bildung haben und in finanziell unsicheren Haushalten leben, sind sie gezwungen, zu arbeiten.

Und da die jemenitischen Arbeitsgesetze keine ausdrücklichen Strafen für Unternehmen vorsehen, die Kinder unter dem gesetzlichen Mindestalter beschäftigen, ist der Strom der Kinder, die auf den Arbeitsmarkt drängen, ungebrochen.

Gleichzeitig werden Kinder, die bei der Arbeit verletzt werden, nur selten von ihren Arbeitgebern unterstützt. Mansours Mutter beispielsweise musste nach seinem Unfall für die gesamte medizinische Versorgung und die Kontrolluntersuchungen aufkommen, weil sein Arbeitgeber sich geweigert hatte, die Kosten für die medizinische Versorgung zu übernehmen, und ihn nie im Krankenhaus auch nur besuchte.

Gutherzige Menschen in der Gemeinde, die von Mansours Notlage erfuhren, halfen, einen Teil der Kosten zu übernehmen, während andere anboten, für einen Rollstuhl, Essen und Physiotherapiesitzungen zu zahlen.

In einem Gespräch mit FairPlanet fordert Alban vom Ministerium für Soziales und Arbeit: „Andere Regierungsbereiche, wie das Bildungsministerium, müssen zerstörte Schulen wieder aufbauen, sie müssen verhindern, dass Kinder ihre Ausbildung abbrechen, die Gewalt an Schulen verringern und den Lehrplan ändern.“

„Auch das Gesundheitsministerium muss die Eigentümer von landwirtschaftlichen Pestizidfirmen dazu verpflichten, Kinder vom Sprühen landwirtschaftlicher Pestizide abzuhalten“, fügte sie hinzu. „Daneben spielt das Informationsministerium eine wichtige Rolle bei der Aufklärung über das Problem der Kinderarbeit und -ausbeutung.“

Im März 2019 stellte ein Bericht mit dem Titel „Child Labor in the Arab Region“ (Kinderarbeit in der arabischen Region), der von der Arabischen Liga und dem Arabischen Rat für Kindheit und Entwicklung unter Aufsicht der Internationalen Arbeitsorganisation erstellt wurde, fest, dass Kinder in einigen Teilen der arabischen Welt „zunehmend in die schlimmsten Formen der Kinderarbeit hineingezogen werden und Ausbeutung, Missbrauch sowie physischen und psychischen Schäden ausgesetzt sind.“

Der Bericht warnte, dass der Sudan und der Jemen die höchsten Raten von Kinderarbeit in der arabischen Region verzeichneten (19,2 Prozent bzw. 34,8 Prozent).

FairPlanet sprach mit Ibtihal Al-Komani, einer in Sana'a ansässigen Anwältin und Menschenrechtsaktivistin, über die gesetzlichen Verpflichtungen des Landes gegenüber dem Wohlergehen von Kindern und darüber, wie das Gesetz diese Formen der Gewalt gegen sie beenden kann.

„Es ist an der Zeit, die Verstöße in der Arbeitswelt zu beenden und die Überwachungsmechanismen von Menschenrechtsgruppen zu implementieren“, fordert Al-Komani. „Diese Organisationen müssen die Kinder umfassend unterstützen, um sie zu schützen und zu verhindern, dass Kinder gefährliche Arbeiten verrichten, die zum Tod führen können.“

„Die Regierung muss sich auch um die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses bemühen, in dem Mitglieder der Gesellschaft und der NROs vertreten sind“, fügt sie hinzu. „Diese Gruppen sollten Berichte erstellen und diese vertraulich als Dokumentation von Fällen von Rechtsverletzungen einreichen und sie den Justizbehörden vorlegen, damit diese die Arbeitgeber wie im Gesetz vorgesehen bestrafen können.“

Dutzende von Nichtregierungsorganisationen haben im Jemen Programme zur Wahrung der Rechte von Kindern entwickelt und führen umfangreiche Maßnahmen durch, um ihr Leid zu lindern und ihr Wohlergehen zu fördern.

UNICEF zum Beispiel erreicht mehr als 254.000 Kinder und Betreuer in den vom Konflikt betroffenen Gebieten im Jemen und leistet psychosoziale Unterstützung. Fast 1,5 Millionen Haushalte erhielten in der Vergangenheit vierteljährlich Bargeld-Sofortüberweisungen von der UN-Organisation, was etwa neun Millionen Menschen zugute kam.

War Child UK, eine im Vereinigten Königreich ansässige NRO, ist ebenfalls seit mehreren Jahren im Jemen tätig und arbeitet direkt mit Kindern zusammen, um sie in Sicherheit zu bringen.

Gegenüber FairPlanet erklärt ein Sprecher von War Child UK: „Trotz der großen Zahl von Kindern, die aufgrund des Zusammenbruchs der Volkswirtschaft täglich auf den Markt gehen, um einen Job zu finden, waren Kinderehen - die als Schutzmechanismus oder zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten eingesetzt werden können - das wichtigste Kinderschutzproblem.“

„Ich wünschte, mein Vater könnte eine gut bezahlte Arbeitsstelle finden, damit ich zur Schule gehen und nicht mehr arbeiten muss“, träumt Omar von einer anderen Zukunft. „Aber wer würde uns das bieten? In Kriegszeiten ist das unmöglich.“

* Namen von d. Red. geändert

Artikel geschrieben von:
haitham_alqaoud
HAITHAM ALQAOUD
Autor:in
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Kinder, die aufgrund des andauernden Krieges vertrieben wurden, stehen am 21. Februar 2021 am Stadtrand von Sanaa im Jemen neben Zelten in einem Lager für Binnenvertriebene.
© Mohammed Hamoud/Getty Images
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Kinder der jemenitischen Minderheit "Muhamasheen" - wörtlich "die Ausgegrenzten" - nehmen am 4. Juli 2020 an einer Unterrichtsstunde in einem Slum in der Hauptstadt Sanaa teil.
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