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EU-Asylrechtsreform: In der Welt zuhause oder doch nur zu Gast?

18. Juni 2023
Thema:Schutzsuchende und Asyl
Von:Raze Baziani
Seit Jahren debattiert Europa über einen einheitlichen Umgang in der europäischen Migrationspolitik. Nun einigten sich die EU-Innenminister:innen auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die von vielen Seiten stark kritisiert wird.

Mit der Asylrechtsreform möchten die Vertreter:innen der EU nach eigenen Angaben unter anderem illegalisierte Migration verhindern und Prozesse beschleunigen. Dazu sollen unter anderem an den europäischen Außengrenzen erstmals verpflichtende Asylprüfverfahren etabliert werden. Ablehnungen münden dann in ein direktes Abschiebeverfahren. Ein Ablehnungsgrund bestünde beispielsweise dann, wenn jemand über ein als sicher eingestuftes Drittland in die EU kommt. Zu den „sicheren“ Ländern gehört unter anderem auch die Türkei. Das Land hat jedoch seit Anfang 2020 keine Menschen mehr „zurückgenommen“. Stattdessen gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie die Türkei geflüchtete Menschen aus dem Iran der Syrien selbst zurückgeführt hat, obgleich in diesen Ländern einerseits massiv Menschen aus diversen Gründen verfolgt und bedroht werden und im Falle Syriens ein Krieg wütet.

Kernprobleme werden nicht angesprochen

Die neuen europäischen Grenzverfahren sollen in der Regel bis zu drei Monate dauern. In dieser Zeit müssen die Menschen aus Ländern, für welche eine Asylanerkennungsquote von unter zwanzig Prozent herrscht, in streng abgesicherten und geschlossenen Grenzlagern verweilen. Und schon jetzt wird der Zutritt in die bereits existierenden Geflüchtetenlagern für Hilfsorganisationen nicht immer gewährleistet. Laut Pro Asyl ist der Zugang zu den „geschlossenen Einrichtungen“ in Griechenland in der Praxis selbst für Rechtsanwält:innen oft eingeschränkt. Solche Zustände werden nach Einschätzungen vieler Menschenrechtsorganisationen durch die geplante Asylrechtsreform weiter zementiert.

Außerdem werden mit dem Reformvorhaben die Kernprobleme der europäischen Migrationspolitik erst gar nicht angesprochen: Noch immer haben einige Mitgliedsstaaten, wie beispielsweise Ungarn das bestehende europäische Asylrecht inhaltlich nicht oder nicht vollständig umgesetzt und nehmen entweder keine oder aber nur sehr wenige Menschen auf, obwohl sie dazu rechtlich verpflichtet sind. Mit den neu geplanten Strafzahlungen werden aber keine Anreize für die Umsetzung vereinbarter Grundsätze geschaffen. Abgesehen davon wurden keine Lösungsansätze für die vielen Bootsunglücke diskutiert, obwohl alleine in diesem Jahr mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Erst vor wenigen Tagen ertranken vor der Westküste der Halbinsel Peloponnes mindestens 78 Menschen.

Wie wirkt sich die Reform auf die Anzahl der Ankommenden aus?

Darüber hinaus ist nicht klar, inwiefern das Reformvorhaben sich auf die Anzahl der Ankünfte auswirken und illegalisierte Migration verhindern soll. Oder anhand welcher Kriterien errechnet wird, welche Länder als sicher gelten und wie viele Einzelschicksale von vulnerablen Gruppen aus „Nichtkriegsländern“ durch die Standardisierung unberücksichtigt bleiben. In den Grenzverfahren soll nämlich auch nicht zwingend der Asylgrund zu prüfen sein, sondern vor allem die Zulässigkeit des Antrags. Inwieweit es für Betroffene faktisch möglich sein wird, Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der Grenzbehörden zu finden ist ebenfalls unklar. Rechtsverfahren bzgl. des Aufenthalt- und Asylstatus sind nicht nur im mentalen und physischen Ausnahmezustand nach einer Flucht überfordernd, sondern auch extrem langwierig und kompliziert. Vergangenes Jahr wurden allein in Deutschland fast 40.000 gestellte Asylanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zunächst abgelehnt. Erst in nachträglichen Gerichtsverfahren und teilweise durch eigene Korrekturen des BAMF wurde der Schutzstatus doch noch bestätigt.

Die Debatte über Migration aber kann eigentlich nicht ehrlich geführt werden, ohne globale Wanderungsbewegungen umfassend in den Blick zu nehmen. Noch leben wir in einer Welt, in der Bewegungsfreiheit davon abhängt, welche Nationalität ein Mensch besitzt. In der es nicht nur akzeptabel, sondern gar en vogue ist, dass ein Teil der Weltbevölkerung die Abenteuer des digitalen Nomadentums in Ländern wie Südafrika oder Thailand genießt. Während das für die dort lebende Bevölkerung nicht anders herum gilt. Stattdessen fehlt ihr durch die Folgen der Klimakrise, die mehrheitlich vom globalen Norden verursacht wird, zunehmend das Wasser zum Trinken und die saubere Luft zum Atmen. 

Laut dem Henley Passport Index ermöglicht der deutsche Pass eine visumfreie Einreise in 191 Länder. Beim südafrikanischen sind es 105 und beim thailändischen Pass nur 80 Länder.

Wenn die soziale Identität von Staatsgrenzen abhängt

Warum finden wir es nicht absonderlich, wie für manche Menschen aus ihrer Staatsbürgerschaft ein Anspruch auf globale Bewegungsfreiheit erwächst, während andere von geografischer Exklusion betroffen sind? Welche Beziehung pflegen wir mit dieser Haltung zu unserer Erde und Natur, die doch allen oder aber keinem und keiner gehören? Und wie selbstentfremdet ist eigentlich der Mensch, dessen soziale Identität abhängig von einer geografischen Konstruktion, also von Staatsgrenzen ist? Manch eine:r könnte meinen, moralische Fragen beantworteten sich in einer unmoralisch organisierten Welt einfach nicht. Doch gerade jene Haltungen materialisieren sich in ökologischen Verteilungskonflikten und reproduzieren ökonomische Ungleichheitslagen.

Einst wurde der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ wie eine Beleidigung benutzt. Die kulturelle Schikane, Erwerbslose dafür zu beschämen, dass sie keine Arbeit haben, und „Ausländer“ dafür, dass sie eine Arbeit suchen, verfängt logisch nicht. Seit geraumer Zeit scheut die deutsche Politik es aber nicht mehr, offen für „qualifizierte Arbeitsmigration“ zu werben. Die vielen nach Deutschland geflüchteten Ingenieur:innen sind jedoch ein gutes Beispiel dafür, wie wenig die deutsche Bürokratie diese „qualifizierte Arbeitsmigration“ ermöglicht. Denn die Hoffnung, dass das Land der Ingenieur:innen sie mit offenen Armen oder zumindest Arbeitschancen empfängt, wurde in vielen Fällen bitter enttäuscht, indem das Potenzial dieser Menschen zunächst in jahrelangen bürokratischen Einbürgerungsprozessen geparkt wurde. Aufgrund fehlender Arbeitserlaubnisse und unsicherer Bleibeperspektiven wurden sie so als Leiharbeiter:innen oder Minijobber:innen ins Prekariat gedrängt.

Ein Gesellschaftsbild, in dem Armut ein Stigma ist

Gleichzeitig stoßen bis heute nicht nur sie auf ein Gesellschaftsbild, das Armut auf einen Mangel an persönlichen Fähigkeiten zurückführt und ausgrenzende Stigmata perpetuiert. Die Selbstherrlichkeit gegenüber den Einkommensschwächeren und Marginalisierten mag individuell früher oder später verpuffen, wenn man sich zum Beispiel nach einem Schicksalsschlag wieder der eigenen Verletzlichkeit bewusst wird. Langfristig sorgt dieser Klassismus jedoch dafür, dass politische Entscheidungsträger:innen ihrer Verantwortung für soziale Missstände nicht mehr entsprechend gerecht werden müssen, da auch sie die Schuld auf den Einzelnen abwälzen können.

Mehrfach diskriminierte Menschen wie jene mit Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte sind aufgrund solcher Narrative besonders von sozialer Ausgrenzung betroffen. Immerhin hat die deutsche Bundesregierung nun aber beschlossen, ausländische Fachkräfte schneller in den nationalen Arbeitsmarkt zu integrieren. So sollen ausländische Abschlüsse mit der diesjährig beschlossenen Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes leichter anerkannt werden. Bisher hinkt Deutschland dabei im europäischen Vergleich noch immer hinterher.

In Norwegen und Frankreich gibt es zum Beispiel schon seit Langem standardisierte Verfahren zur Zertifizierung von Erfahrungswissen, um informell und non-formal erworbene Kompetenzen zu würdigen. In beiden Ländern gibt es nach einer bestimmten Beschäftigungszeit sogar einen juristischen Anspruch auf Prüfung der erlernten Fähigkeiten, die bei erfolgreichem Bestehen zu einer Zertifizierung führt, die einer formellen Ausbildung gleichsteht.

Dass Deutschland seine rigiden Strukturen nun verändert. ist in Anbetracht des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels schon länger überfällig. Nur scheint es dabei viel mehr um ökonomische Argumente zu gehen und weniger auf verbriefte Prinzipien und humanistische Überzeugungen.

Artikel geschrieben von:
Raze Baziani
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Überlebende eines Schiffbruchs sitzen am 15. Juni 2023 in einem Lagerhaus im Hafen der Stadt Kalamata, nachdem ein Boot mit Migranten in internationalen Gewässern im Ionischen Meer gesunken ist. Griechenland hat eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen, wie das Büro des Interims-Premierministers am 14. Juni 2023 mitteilte, nachdem ein Migrantenboot im Ionischen Meer gesunken war, das vermutlich Hunderte von Menschenleben gefordert hatte. Die griechische Küstenwache hat bisher 79 Leichen geborgen und über 100 Menschen gerettet. Überlebende behaupten jedoch, dass bis zu 750 Menschen an Bord waren.
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