23. Juni 2023 | |
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Thema: | Frauenrechte |
Von: | Sarah Kessler |
Der Twitterpost, in dem die Nordirin Shelby Lynn nach einem Rammstein-Konzert in Vilnius, die Band anschuldigte, sie unter Drogen gesetzt zu haben – damit Frontsänger Till Lindemann sexuelle Handlungen an ihr durchführen könne –, löste eine Welle der Solidarität und des Hasses aus. Shelby Lynn manövrierte den systematischen Skandal ans Tageslicht. Andere Frauen berichteten daraufhin von ähnlichen Erfahrungen: Die Influencerin Kayla Shyx erzählte in einem über 30-minütigem Youtube-Video von ihren Eindrücken auf einer Rammstein Aftershow Party, bei der sie massiv unter Druck gesetzt wurde. Sie entkam der Situation, andere Frauen nicht.
Nach Dieter Wedel, Julian Reichelt und Til Schweiger ist nun also ein weiterer prominenter #metoo-Fall bekannt. Die darauffolgende Debatte zieht vor allem die Betroffenen in Zweifel. Frauen würden die Anschuldigungen nur für die eigene Berühmtheit erheben und es gebe bestimmt auch Groupies, die gerne mit dem berühmten Idol schlafen würden, sind gängige Floskeln in der öffentlichen Debatte um den Rammstein-Skandal. Sie zeigen, dass der Täterschutz gesellschaftlich internalisiert ist. Doch ob es Frauen gibt, die freiwillig mit Till Lindemann geschlafen haben, ist in der Debatte unerheblich. Denn die Frauen, die nun an die Öffentlichkeit getreten sind, berichten von Handlungen, die gegen ihren Willen passierten.
Vergewaltigung, unfreiwilliger Drogenkonsum, sexuelle Übergriffe: kurz Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. Vor allem auf den sozialen Medien, aber auch in Talkshows, wird nun heftig debattiert. Darüber, was da eigentlich passiert ist. Und über die Glaubwürdigkeit der Betroffenen. Rammstein leugnet die Vorwürfe und schickt eine Armada von Rechtsanwälten los, um sowohl Medien als auch Opfer mit Unterlassungsklagen zu bekämpfen. Und wo man auch in Kommentarspalten liest, überall fällt immer wieder das gleiche Wort: Unschuldsvermutung. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin gegen den Rammstein-Sänger: Es besteht ein Anfangsverdacht bezüglich Sexual- und Drogendelikte.
Nur jede hundertste Vergewaltigung wird verurteilt
Können nur Jurist*innen die Vorwürfe klären? Dieser Vorstoß, egal wie er motiviert ist, dient lediglich dazu, die öffentliche Diskussion abzuwürgen. Es ist elementar, zu verstehen, welchem System diese Forderung folgt. Denn das, was gerichtlich entschieden werden kann, ist die Frage der Beweisbarkeit. Im Fall Rammstein also, ob dem Frontsänger Till Lindemann die ihm zur Last gelegten Vorwürfe lückenlos nachgewiesen werden können.
Bei Sexualdelikten ist genau diese Beweisbarkeit jedoch problematisch. So wird nur jede hundertste Vergewaltigung in Deutschland verurteilt. Der Kriminologe und ehemaligem Justizminister Niedersachsens Christian Pfeiffer hat eine detaillierte Analyse der Zahlen aus den Jahren 2014 bis 2016 veröffentlicht. Das Ergebnis ist ernüchternd: 85 Prozent der vergewaltigten Frauen erheben keine Anzeige und von den 15 Prozent der Vergewaltigungen, die vor Gericht landen, werden nur 7,5 Prozent der Täter verurteilt. Da drängt sich die Frage auf, wie es sein kann, dass noch immer 99 Prozent der Vergewaltiger straffrei davonkommen?
Die Gründe dafür sind vielfältig. Dass so wenige Frauen Anzeige erstatten, liegt unter anderem daran, dass die meisten sexuellen Übergriffe im sozialen Umfeld stattfinden: Etwa jede vierte Frau in Deutschland wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch einen früheren Partner. Das geht aus der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Die Hürde, Taten aus dem häuslichen Umfeld anzuzeigen, ist ungleich höher als bei sexuellen Übergriffen durch Fremde. Außerdem weist unsere Gesellschaft Frauen subtil eine Mitschuld zu. Fragen nach aufreizendem Verhalten, knapper Bekleidung oder Unachtsamkeit finden neben dem privaten Umfeld auch vor Gericht statt. Männliche Machtstrukturen haben also auch in Teilen der Urteilssprechung einen Platz. In den allermeisten Fällen, die schließlich vor Gericht landen, steht es Aussage gegen Aussage. Denn bei Sexualdelikten gibt es in der Regel keine Zeug*innen.
Das Ausbleiben einer Verurteilung ist nicht gleichbedeutend mit Unschuld
Im Zweifel heißt es dann: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Das ist natürlich richtig und an diesem Grundsatz darf keineswegs gerüttelt werden. In einem Rechtsstaat muss es oberste Priorität haben, dass keine Unschuldigen willkürlich zu (Haft-)Strafen verurteilt werden. Doch das Ausbleiben einer Verurteilung ist nicht gleichbedeutend mit Unschuld. Es stellt lediglich fest, die Tat nicht beweisen zu können. Ein Blick in die Statistiken zu den Verurteilungen von Vergewaltigungen zeigt, dass es neben der Justiz einen gesellschaftlichen Diskurs bedarf. Denn ein weiteres Problem ist, dass Polizist:innen und Justizbeamt:innen nicht ausreichend auf dem Gebiet der Sexualstraftaten geschult sind. Hier muss angesetzt werden, damit Opfer sexualisierter Gewalt sich sicher fühlen, polizeiliche und justizielle Unterstützung einzufordern.
Dafür braucht es im ersten Schritt einen gesellschaftlichen Diskurs, der Betroffenen glaubt, anstatt die Täter zu decken. Natürlich mag es Einzelfälle geben, in denen die Tat erfunden ist. Der Kachelmann-Prozess wird dafür gerne genannt. Das ist für jede Frau, die einmal physische oder sexualisierte Gewalt erleben musste, ein Schlag ins Gesicht und wird juristisch aufgearbeitet. Doch diese Fälle sind genau das: Einzelfälle.
Patriarchale Gewalt hingegen hat System. Hier kommen wir nur mit einem Systemwechsel gegen an. Solange jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben physische oder sexualisierte Gewalt erleben muss, haben wir bis dahin noch einen langen Weg.
Doch Betroffene ernst zu nehmen, ihnen psychische Unterstützung und juristische Beratung zu ermöglichen – und ihnen eine mediale Bühne zu geben, sind wichtige Maßnahmen, die sich auf juristische Prozesse auswirken werden.
*FLINTA steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, non-binäre, trans und agender Personen.